14.03.25 - 16.03.25


Blickwinkel

 

Sport ist auch ein Gefühl.

 

Eine Leidenschaft und ein verbindendes Element für Menschen aus allen Lebensbereichen.

Vier Events an einem Wochenende aus dem Blickwinkel von vier fiktiven Protagonisten.

Jeder dieser Charaktere bringt seine eigene Geschichte, seine Emotionen und seine Sichtweise auf das Geschehene mit.

 

Sei es als junger Ultra beim Eishockey, als Kunst studierender Löwenfan, als emanzipierte Kamerafrau oder als alternder Fußballer in der Bezirksliga. Ihre Erlebnisse spiegeln die Vielfalt und die Dynamik wieder, die den Fußball umgeben.

 

Diese von Beobachtungen inspirierten Erzählungen zeigen Sport aus vier unterschiedlichen Blickwinkeln- und vielleicht erkennt man dabei auch ein Stück von sich selbst.

 

Luca (15)

"Dann benehmt euch anständig" ist die einzige Reaktion aus dem Pulk der wartenden Fans. Luca hatte sich mehr Gegenwind ausgemalt, vielleicht sogar erhofft. Wenn er schon Stunden vor dem Spiel darüber nachdenkt, welche Cap heute auf seinem Kopf landet, geht es um mehr als Style oder Mode. Es geht um Identität – es geht um Abgrenzung. Es geht um Protest und – wenn man Ultra eines Eishockey-Oberligisten ist – auch um Loyalität.

 

Klar, hat ihn Fußball immer am meisten interessiert. Seine Heimatstadt Heilbronn beheimatet jedoch nur eine Handvoll Amateurclubs in den unteren Klassen, und so landete er mit seinen Freunden bei den Falken, die eben keine Kick-, sondern Schlittschuhe tragen. Die Energiequelle eines jungen Menschen, der in die Fanwelt eintaucht, ist innerhalb der Sportarten identisch – nur eben oft konträr zum Fußball kleiner.

 

So steht Luca mit zehn weiteren Freunden auf der kleinen Erhebung vor dem städtischen Eisstadion und singt laut gegen alle Stadionverbote. Seine Gruppe nennt sich „Aspirante“ und ist die Nachfolgerin der im vergangenen Jahr aufgelösten Kollektiv Riege. Nach einem Auswärtsspiel in Bayreuth wurden bei einem Angriff, wahrscheinlich geplant von den Ultras aus Bietigheim, mehrere Fahnen und Banner gestohlen, was für einen Fanclub in Ultra-Color den ehrenvollen Tod bedeutet.

 

Die Blicke der am Einlass stehenden Fans fallen auf Luca und seine Mitstreiter. So einen Auftritt hat die Gruppe selten. Es geht heute im ersten Spiel des Playoff-Viertelfinales gegen Memmingen. Freitagabend, eine ausverkaufte Halle und der Traum vom Wiederaufstieg.

 

Im Herzen der Stehplatz-Gegentribüne befindet sich das Stimmungszentrum. Luca ist mit 15 Jahren eines der jüngsten Mitglieder und muss die Kisten für den Infostand tragen, an dem er vor dem Spiel Aufkleber verkauft. Außerdem muss er abwechselnd mit zwei weiteren Schützlingen während des Spiels die Fahne der Gruppe schwenken. Man muss sich eben erst seine Sporen verdienen.

 

Während rundherum Gerstensaft getrunken wird und die Runden zahlreiche Abnehmer finden, sind Luca und seine Freunde mit einer fast militanten Hingabe dabei, die Stimmung der Halle zu gestalten. Ihr Lustempfinden ziehen sie nicht aus hemmungsloser Party, sondern aus dem Machtgefühl, den Ton anzugeben. Selbst die kritischsten Fans singen und klatschen mit, wenn sich die Halle im Einklang mit der Mannschaft in den Abend hinein bewegt.

 

Dreimal landet der Puck in der regulären Spielzeit im Tor der Memminger. Dreimal diese Entladung, dieses Gefühl, dass es sich lohnt. Dreimal muss der Torwart der Heilbronner Falken hinter sich greifen. Das bedeutet Verlängerung. Sudden Death. Das nächste Tor bestimmt den Sieger. Genau drei Minuten muss

 

Luca noch warten, bis sich mit dem Tor in der Nachspielzeit eine extatische Freude im Pulk seiner Gemeinschaft entlädt. Umarmungen, Fäuste nach oben reißen – gekämpft, gewonnen. Der North Face-Pullover ist durchgeschwitzt. Luca, Fin, Max und wie die Ultras der Gegenwart alle heißen. In diesen Momenten sind sie eine namenlose, verschmelzende Gemeinschaft. Freitagabends in Heilbronn, voller Stolz.

 

Mit dem Bus geht es in zwei Tagen zum nächsten Spiel. 20 Euro kostet die Fahrt.

Gustav (23)

Nicht mit dem Bus sondern mit der Tram fährt Gustav immer zum Fußball. Mit der Linie 25 fährt man ungefähr 25 Minuten von der Maxvorstadt zum Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße, wie das Sportfeld auf Giesings Höhen korrekt bezeichnet wird.

 

Seit über 100 Jahren ist dieser Platz abwechselnd und immer mal wieder die Heimat diverser Münchner Vereine. In liebevoller und enger Verbindung spielt der TSV 1860 München seine Heimspiele seit 2017 wieder Mitten in München

 

Die Stehhalle, wie die Gegentribüne genannt wird ist das Revier von Gustav und seinen Freunden, welche, wie er auch fast alle in der bayrischen Landeshauptstadt studieren. Kunstgeschichte in der Ludwigs-Maximilian-Universität. 

 

Nicht selten wird er gefragt, warum er sich 3.Liga anschaut, in einer Stadt, welche einen der besten Fußballvereine der Welt beherbergt. Sein Vater ist glühender Fan der Roten, sein Bruder auch. Gustav aber, der das Kindheitstrauma seines Namens überwunden hat, seit er nach München gezogen ist, mag die raue Fußballwelt in Giesing. Oder sollte man sagen die blaue?

 

Der TSV ist ein Sammelbecken auf mehreren Ebenen. Zum einen ist das Sammeln von Bechern dort eine Art Leistungssport für Kinder. Scharenweise gehen die Deandeln und Buam auf und ab und finanzieren sich mit dem Pfandrückgeld die nächste Süßigkeit im Stadionkiosk. Was die Löwen, wie der Club genannt wird, noch sammelt sind meckernde Rentner, welche noch die erste Deutsche Meisterschaft 1966 persönlich feierten und eben solche eher jungen Menschen, welchen der FC Hollywood an der Säberner Straße ein eher abschreckendes Beispiel kapitalistischer Fußballallmachtphantasien ist.

 

Junge Menschen wie Gustav, der nicht nur seinen Studiengang optisch nach außen trägt, sondern eben auch seine Fußballgesinnung. Die langen blonden Haare unter einer Wollmütze, der Hanfpullover in allen Farben, welche die Natur hergibt. Wollsocken und Schwarze Crocs runden das Samstagnachmittagoutfit ab. Schal und Trikot? Eher primitiv. Casual Marken seiner Zeit längst überholt und ausgehöhlt. Seit der Bankberater seines Vaters im Fred Perry Hemd am Schreibtisch klebt, ist selbst das einstige Working Class label nur noch ein Wappen ohne Inhalt. 

 

 

Auch an diesem eiskalten Münchner Wochenendtag wird schnell deutlich, 1860 ist nur noch ein Schatten eines Vereins mit einer Basis für die Zukunft. Aber der Ball rollt eben immer weiter. Und sind die Zeiten sportlich auch noch so trist. Und das sind sie an diesem 29. Spieltag der 3.Liga. Der Kampf gegen den Abstieg ist Realität – die Liebe zu diesem Verein aber ebenso. 15.000 Gegenentwürfe zum modernen Fußball stehen an diesem Samstag im Grünwälder und feiern den 2-1 Erfolg der Löwen im Derby gegen Unterhachingen. Darunter Gustav und seine Kumpels in der ersten Reihe der Stehhalle Nord. Ein Zaun, mit welchem man Elefanten vor dem Auftreten des Spielfelds abhalten könnte, nimmt ihnen jegliche Sicht auf das sportliche Ereignis. Das stört aber nicht. Das Hacker Pschorr läuft in Strömen, es wird geraucht und diskutiert. Der Rahmen, die kleine Giesinger Fußballwelt. Betrunken nicht nur vom Bier, sondern auch von der Gewissheit anders zu sein. Vielleicht nicht unbedingt moralische überlegen, aber individueller. Ein Löwe eben, Anführer und Rudeltier.  

 

Vereinsfarbe blau, der zustand ist es ebenfalls. Der Tag endet um 5.30 Uhr in einer Kneipe in München. 

Luise (53)

Um diese Uhrzeit klingelt der Wecker von Luise. Nur schwer und langsam öffnet sie ihre Augen. Wie so ziemlich jeden Sonntag bedeutet das Wochenende für sie frühes Aufstehen und Arbeiten. Luise ist Kamerafrau bei der Sendung „Doppelpass“ im Fernsehsender Sport 1. Als sie damit anfing, hieß der Sender noch DSF, und die Folgen wurden von Rudi Brückner moderiert.

 

Bevor Luise zum Fernsehen kam, studierte sie an der TU Nürnberg Film und Animation. Schon bald zog es sie jedoch ins weitaus reizvollere München. Kleineren Engagements bei den Bavaria Filmstudios folgte 1995 der Job beim Fußballstammtisch im Kempinski Hotel am Münchner Flughafen. Livesendungen sind immer eine große Herausforderung. Luise jedenfalls fand schnell Gefallen an der Stimmung am Set. Selbst den oftmals hochnäsigen, arroganten Fußballalphamännchen konnte sie einen gewissen Charme abgewinnen. Vor allem, wenn sie sich in dieser Männerdomäne bewusst gemacht hat, dass eine Frau den „Doppelpass“ erfunden hat. Die Sportjournalistin Ulla Holthoff war nicht nur eine erfolgreiche Wasserballerin, sondern entwickelte federführend die Idee zu einer Fußballtalkshow. Ganz nebenbei wurde sie dann auch noch Mutter der Gebrüder Hummels.

 

Knapp 30 Jahre später macht sich Luise mit ihrem Saab Kombi auf den bekannten Weg ins Erdinger Moos. Die mittlerweile grauen Haare zu einem Zopf gebunden, flache Schuhe. Nicht nur aufgrund von Arbeitssicherheit – mit über 1,80 m ist sie es gewohnt, als Frau die Welt von oben zu betrachten. Viel höher hinaus wollte sie aber nie.

 

Denn zweiten Kaffee gibt es vor Ort um 8:00 Uhr. Dann trifft sich das Team rund um Bildgebung und Technik. Die Stimmung ist wie immer sehr herzlich – man kennt und schätzt sich nach all diesen Jahren.

 

Schon eine Stunde später kommen die Herren der Schöpfung. Moderator Florian König parkt als Erstes seinen schwarzen SUV vor dem Hotel, das seit ein paar Jahren zur Hilton-Gruppe gehört. 30 Minuten später kommt Experte Stefan Effenberg zur Maske und fast zeitgleich Fußballtrainer Alex Zorninger.

Michael Leopolt von Sky und der junge Journalist Conan Furlong könnten die Gruppe komplett machen, wenn nicht wie fast jeden Sonntag die Redaktionseule Alfred Draxler mindestens kurz vor viel zu spät dazu stoßen würde.

 

Was den jungen Aufnahmeleitern die Schweißperlen auf die Stirn treibt, ist für Luise längst Routine geworden. Jeder Handgriff sitzt, und darum ist mehr Zeit für gute Laune. Um reich zu werden, hat sie diesen Job nie angefangen. Es genügt für die kleine Wohnung in der Münchner Peripherie. Jegliche private Anschaffung von neuem Fotoequipment muss so oder so erst langfristig verdient werden.

 

Dass Effenberg für seinen Auftritt 5000 Euro jeden Sonntag mit nach Hause nimmt, trotzt Luise aber nur ein leichtes Lächeln ab. Sie würde nicht tauschen.

 

Sie mag die Begegnungen während der Werbepausen. Nicht selten trifft sie bierbeseelte Männer, manchmal aber auch auf ein Lächeln und ein kurzes Gespräch.

 

Nach zweieinhalb Stunden ist die Arbeit getan. Zwei kurze Gespräche mit der Technik und ab nach Hause. Aufräumen dürfen andere. Wie lange Luise das schon so macht? Fragt man sie direkt, antwortet sie in ihrem immer noch prägnanten Fränkisch: „So lange es den Scheiß schon gibt.“

 

Wie lange sie es noch macht? Das weiß sie nicht. Aber vielleicht ist es genau diese Freiheit, die wir alle suchen. Es kann jedenfalls auch ein Gewinn sein, nicht immer im Rampenlicht zu stehen. Luise jedenfalls steht gerne hinter den Dingen.

 

Um 14:00 Uhr dreht sie den Schlüssel ihrer Wohnung und fällt erstmal ins Bett. 

Mehmet (39)

Um diese Zeit zieht Mehmet seine alten Fußballschuhe aus der Sporttasche. Die Kabine ist eng, man kann sich nicht drehen, ohne auf ein paar Klamotten, Schuhe oder Kulturbeutel zu treten. Es riecht nach Pferdesalbe und Finalgon. Kreisliga eben. Oder genauer gesagt: Bezirksliga Oberbayern Ost. Seit der Winterpause spielt Mehmet beim SpVgg Altenerding. Eigentlich wollte er seine lange Laufbahn schon längst beendet haben. Aber im Gegensatz zu gutem Fußballspielen konnte er immer sehr schlecht Nein sagen.

 

In der Jugend spielte Mehmet für Eintracht Braunschweig immerhin in der zweithöchsten Spielklasse. Er war ein Talent, wusste schon immer, was er mit dem Ball anstellt, bevor er ihn am Fuß hatte. Es war ein Automatismus, etwas, das ihm leicht fiel. Schule war nebensächlich und hatte außer dem Sport und seinen Freunden höchstens eine drittklassige Relevanz.

 

Mit 18 ging er der Ausbildung wegen nach München.

 

Einmal im Olympiastadion oder später in der Allianz Arena in München auflaufen. Nicht selten enden diese Kinderträume auf den Amateursportplätzen dieser Republik.

 

Mehmet hielt sich diese Phantasie lange lebendig. Der Trainer von Unterhaching entdeckte ihn bei einem Freizeitkick und nahm ihn unter Vertrag. Man kann dieses Gefühl nicht beschreiben, wenn man seinen ersten gut dotierten Kontrakt unterschreibt. Mit dieser Signatur sind alle Hoffnungen und Sehnsüchte verbunden. Vielleicht noch viel mehr, wenn man als türkischstämmiger Deutscher in Mehmets Generation in vielen Bereichen noch Zaungast in diesem Land war. Beruflich Karriere machten eher Jonas, Stefan oder Karsten. Aber für viele Jungs blieb der Fußball als Selbstverwirklichung und Chance aufs Glück – und sind wir ehrlich, auch aufs große Geld.

 

Bis Mehmet jedenfalls mit seinen jetzt 39 Jahren seine Schuhe für das Abstiegsduell im Sepp Brenninger Stadion schnürt, ist einiges passiert und einiges auch eben nicht. Die Profikarriere blieb aus. Zu langsam für ganz oben, in den entscheidenden Momenten nicht gut genug, keinen unbedingten Willen, um an die Spitze zu kommen. Es mag viele Gründe geben, warum es nicht reicht. Nicht jede Fußballerlaufbahn ist einzigartig. Es gibt Parallelen zu all den gescheiterten Sportlern.

 

Eine ist das Reservoir für ehemals gute Fußballer, was sich untere Amateurklasse oder Kreisliga nennt. Ein Tummelplatz für die, die ihre besten Zeiten hinter sich haben; der Rest hatte nie welche.

 

Man verlebt seine Freizeit miteinander, als Klebstoff dazwischen die Kiste Bier und Geschichten von früher. 10 Euro Prämie pro Punkt in einem Couvert, verteilt von grauen Menschen mit Sparkassenhintergrund, inklusive dem „Hat deine Leistung nicht verdient“-Gesichtsausdruck.

 

Den bekommt Mehmet aber nicht. Auch wenn die Bewegungen über die Jahre unrund wurden und der Körper fülliger als früher ist, genießt er es, wenn die 18-Jährigen fragen, wie es denn so war in den etwas höheren Etagen. „Schnell“, sagt Mehmet immer. „Du hast keine Zeit, nachzudenken, oder der Ball ist weg.“ Diese Unterhaltungen sind inhaltlich eher von mäßigem Wert, aber es fühlt sich gut an – für beide.

 

Und er kann sich sicher sein, dass er auch in seiner etlichsten Saison und den ungezählten Spielen nicht schuld sein wird an der Niederlage, dafür ist er einfach zu gut. Dafür hat er diesen Sport zu lange geatmet. So ist es auch an diesem tristen Sonntag in der Münchner Vorstadt. Das Spiel endet mit einer 0:2-Niederlage gegen den direkten Konkurrenten aus Zorneding. Den Kasten gibt es trotzdem, und schon am nächsten Wochenende wird die verbale Choreografie zwischen Mehmet und seinem Trainer wieder abgehalten werden müssen. „Trainer, ich kann nicht mehr – Mehmet, du musst.“

 

Einmal noch. Und der Ball rollt.

 

Und der Ball rollt weiter...

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